Mittwoch, 7. Dezember 2022

8. Advent 2022

Die Kirchenmaus

Die Weihnachtstage verbrachte ich als Student gern im Hotel Similaun in Österreich in der der 1895 Meter hoch gelegenen Ortschaft Vent, zur Gemeinde Sölden im Ötztal gehörig. Dieser Ort war nämlich ein Ausgangspunkt für viele Bergtouren. Und so hatte ich mir vorgenommen, am 2. Weihnachtsfeiertag die 3768 Meter hohe Ötztaler Wildspitze zu ersteigen.

Ich machte mich mit Beginn der Morgendämmerung, bepackt mit Rucksack, Eispickel,, Steigeisen und Seil auf den Weg in der Hoffnung, noch im hellen Tageslicht wieder in Vent zu sein.

Die Kletterei ließ sich gut an. Mittags erreichte ich bei strahlendem Sonnenschein den Gipfel. Nach kurzer Rast, dem Eintrag ins Gipfelbuch und dem obligatorischen Gipfeltrunk unter dem Gipfelkreuz, machte ich mich auf den Rückweg durch den schneebedeckten steilen Hang hinab ins Tal.

  Und da passierte es:

Ein Schneebrett, auf das ich nicht geachtet hatte, gab nach und ich geriet ins Straucheln, woraus ein Sturz wurde und ein immer schneller werdendes Gleiten auf dem Schneehang talwärts. Alle Versuche, die rasante Fahrt zu stoppen oder wenigstens zu verlangsamen oder zu steuern, schlugen fehl. Die Höllenfahrt schien kein Ende zu nehmen. Der Rucksack hatte mich in eine Kopflage gedreht, sodass ich den sich rasch nähernden Abbruch des Hanges mit dem Ende des Schneefelds immer deutlicher erkennen konnte.

Ein durch Mark und Bein gehender Ruck gebot dem Gleitsturz plötzlich Einhalt. Ein aus dem Schneefeld knapp herausragender Baumstumpf hatte sich im Tragegurt meines Rucksacks verfangen und so meinen Rutsch abrupt gestoppt.

Nach einer Weile, als das Zittern meines Körpers etwas nachgelassen hatte, erhob ich mich in Sitzposition und holte meine Steigeisen aus dem Rucksack, um schweren Schrittes den Weg wieder zum gesicherten Steig zu nehmen.

Kurz vor Vent, noch immer angefüllt vom Dank an den Schutzpatron der Bergsteiger Bernhard von Menthon aus Novara, suchte ich die Pfarrkirche auf, um dort ein Gebet zu verrichten. Als ich die kleine Kirche betrat, stellte ich fest, dass ich nicht der Einzige war, der den stillen Ort aufgesucht hatte, um an einer Andacht zu teilzunehmen, die für den späten Nachmittag anberaumt war.

Ich nahm meinen Rucksack ab und setzte mich in die freie letzte Reihe um für mich ein Dankgebet für die Rettung aus Bergnot an den Himmlischen Vater zu richten.

Als ein Kirchenlied angestimmt wurde, erhob ich mich mit dem Anwesenden. Dabei fiel mein Blick auf das Sitzpolster neben meinem Platz. Was ich dort sah, verschlug mir den Atem. Da saß doch eine rotbraune Maus mit kugelrunden schwarzen Augen, die mich unverwandt anstarrten. Die räumliche Nähe des Nagers aus der Familie der als scheu bekannten Mäuse verwirrte mich. Regungslos verharrten wir beide in unserer Position. Als ich mich im Zeitlupentempo wieder hinsetzte, erlebte ich Erstaunliches: die Maus bewegte sich in zwei Trippelschritten auf mich zu. Das verwunderte mich, bis mir bewusst wurde, dass es sich bei dem Tier um eine arme Kirchenmaus handeln musste, die es gewohnt war, dass sich zuweilen Menschen in ihrem Zuhause aufhielten.

Da hatte ich eine Idee: so langsam wie es vermochte öffnete ich mit meinen Fingern eine der Seitentaschen meines Rucksacks, um aus meinem Vorrat ein Stückchen Käse und mein Taschenmesser herauszuholen. Alles das beäugte die Kirchenmaus mit größter Aufmerksamkeit, immer auf dem Sprung, blitzschnell das Weite zu suchen. Aber ich hatte Glück. Die Maus nahm das abgeschnittene und vorsichtig auf das Sitzpolster gelegte Stückchen Käse und verschwand damit unter die Sitzbank. Nach kurzer Zeit kehrte sie zurück, um sich das nächste Stückchen Käse abzuholen. Und das setzte sich zu meinem Vergnügen eine ganze Weile so fort.

Bei diesem Service für eine hungrige Kirchenmaus war mir völlig entgangen, dass die Andacht ihr Ende gefunden und der Pfarrer neben meinem Sitzplatz Aufstellung genommen hatte, um die Maus und mich mit größtem Wohlwollen zu betrachten.

„Antonia“ hat es gut bei Ihnen“, hörte ich ihn sagen. „Nicht an alle Besucher traut sie sich heran. Nur an die, die ein gutes Herz haben. Sie spürt das auf eine uns verborgene und geheimnisvolle Weise. Bleiben Sie ruhig mit Antonia zusammen, so lange Sie mögen.

Ich lasse die Kirche offen. Ich habe Iren Rucksack gesehen und Sie in Bergsteigermontur beim innigen Gebet. Da ist wohl der Schutzpatron der Bergsteiger tätig gewesen, oder irre ich mich?“

Als ich nickte, verließ er lächelnd die Kirche.

ENDE



Manfred Kolb

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