Die
Kirchenmaus Manfred
Kolb 20.10.2020
Die Weihnachtstage verbrachte ich als Student
gern im Hotel Similaun in Österreich in der der
1895 Meter hoch gelegenen Ortschaft Vent, zur Gemeinde Sölden im Ötztal gehörig. Dieser
Ort war nämlich ein Ausgangspunkt für viele Bergtouren. Und so hatte ich mir
vorgenommen, am 2. Weihnachtsfeiertag die 3768 Meter hohe Ötztaler Wildspitze
zu ersteigen.
Ich machte mich mit Beginn der Morgendämmerung,
bepackt mit Rucksack, Eispickel,, Steigeisen und Seil auf den Weg in der
Hoffnung, noch im hellen Tageslicht wieder in Vent zu sen.
Die Kletterei ließ sich gut an. Mittags
erreichte ich bei strahlendem Sonnenschein den Gipfel. Nach kurzer Rast, dem
Eintrag ins Gipfelbuch und dem obligatorischen Gipfeltrunk unter dem
Gipfelkreuz, machte ich mich auf den Rückweg durch den schneebedeckten steilen
Hang hinab ins Tal.
Und da passierte es:
Ein Schneebrett, auf das ich nicht geachtet
hatte, gab nach und ich geriet ins Straucheln, woraus ein Sturz wurde und ein
immer schneller werdendes Gleiten auf dem Schneehang talwärts. Alle Versuche,
die rasante Fahrt zu stoppen oder wenigstens zu verlangsamen oder zu steuern,
schlugen fehl. Die Höllenfahrt schien kein Ende zu nehmen. Der Rucksack hatte
mich in eine Kopflage gedreht, sodass ich den sich rasch nähernden Abbruch des Hanges
mit dem Ende des Schneefelds immer deutlicher erkennen konnte.
Ein durch Mark und Bein gehender Ruck gebot dem
Gleitsturz plötzlich Einhalt. Ein aus dem Schneefeld knapp herausragender
Baumstumpf hatte sich im Tragegurt meines Rucksacks verfangen und so meinen
Rutsch abrupt gestoppt.
Nach einer Weile, als das Zittern meines Körpers
etwas nachgelassen hatte, erhob ich mich in Sitzposition und holte meine
Steigeisen aus dem Rucksack, um schweren Schrittes den Weg wieder zum
gesicherten Steig zu nehmen.
Kurz vor Vent, noch immer angefüllt vom Dank an
den Schutzpatron der Bergsteiger Bernhard von Menthon aus Novara, suchte ich
die Pfarrkirche auf, um dort ein Gebet
zu verrichten. Als ich die kleine Kirche betrat, stellte ich fest, dass ich
nicht der Einzige war, der den stillen Ort aufgesucht hatte, um an einer
Andacht zu teilzunehmen, die für den späten Nachmittag anberaumt war.
Ich nahm meinen Rucksack ab und setzte mich in
die freie letzte Reihe um für mich ein Dankgebet für die Rettung aus Bergnot an
den Himmlischen Vater zu richten.
Als ein Kirchenlied angestimmt wurde, erhob ich
mich mit dem Anwesenden. Dabei fiel mein Blick auf das Sitzpolster neben meinem Platz.
Was ich dort sah, verschlug mir den Atem. Da saß doch eine rotbraune Maus mit
kugelrunden schwarzen Augen, die mich unverwandt anstarrten. Die räumliche Nähe
des Nagers aus der Familie der als scheu bekannten Mäuse verwirrte mich. Regungslos
verharrten wir beide in unserer Position. Als ich mich im Zeitlupentempo wieder
hinsetzte, erlebte ich Erstaunliches: die Maus bewegte sich in zwei Trippelschritten
auf mich zu. Das verwunderte mich, bis mir bewusst wurde, dass es sich bei dem
Tier um eine arme Kirchenmaus handeln musste, die es gewohnt war, dass sich
zuweilen Menschen in ihrem Zuhause aufhielten.
Da hatte ich eine Idee: so langsam wie es
vermochte öffnete ich mit meinen Fingern eine der Seitentaschen meines Rucksacks,
um aus meinem Vorrat ein Stückchen Käse und mein Taschenmesser herauszuholen.
Alles das beäugte die Kirchenmaus mit größter Aufmerksamkeit, immer auf dem
Sprung, blitzschnell das Weite zu suchen. Aber ich hatte Glück. Die Maus nahm
das abgeschnittene und vorsichtig auf das Sitzpolster gelegte Stückchen Käse
und verschwand damit unter die Sitzbank. Nach kurzer Zeit kehrte sie zurück, um
sich das nächste Stückchen Käse abzuholen. Und das setzte sich zu meinem
Vergnügen eine ganze Weile so fort.
Bei diesem Service für eine hungrige Kirchenmaus
war mir völlig entgangen, dass die Andacht ihr Ende gefunden und der Pfarrer
neben meinem Sitzplatz Aufstellung genommen hatte, um die Maus und mich mit
größtem Wohlwollen zu betrachten.
„Antonia“ hat es gut bei Ihnen“, hörte ich ihn
sagen. „Nicht an alle Besucher traut sie sich heran. Nur an die, die ein gutes
Herz haben. Sie spürt das auf eine uns verborgene und geheimnisvolle Weise. Bleiben Sie ruhig mit
Antonia zusammen, so lange Sie mögen.
Ich lasse die Kirche offen. Ich habe Iren Rucksack
gesehen und Sie in Bergsteigermontur beim innigen Gebet. Da ist wohl der
Schutzpatron der Bergsteiger tätig gewesen, oder irre ich mich?“
Als ich nickte, verließ er lächelnd die Kirche.
ENDE