Samstag, 10. Dezember 2022
13. Advent 2022
Heiligabend in den Bergen mit einer Gämse
Meine beiden Brüder und ich hatten auf der letzten unserer jährlichen Bergtouren beschlossen, einmal Weihnachten gemeinsam in einer Berghütte zu verbringen. Wir verabredeten, uns zur Mittagszeit am Tag vor HeiligAbend in der Similaun-Hütte in den Ötztaler Alpen zu treffen, um gemeinsam ein paar besinnliche Tage abgeschieden vom weltlichen Getriebe zu verbringen.
Ich sollte Proviant für 4 Tage einkaufen, die Schlüssel für die um diese Zeit unbewohnte Berghütte vom Wirt des Gasthofs Gstrein in Vent besorgen und einen Tag vor unserem Zusammentreffen die Hütte für einen zünftigen Bergurlaub vorbereiten. Meine Brüder würden einen Tag später ankommen.
Vom Dorf Vent aus, am äußersten Ende des Ötztals in 1900 Meter Höhe gelegen, machte ich mich am 23. Dezember des Jahres 1960 nach Erledigung der Einkäufe auf den Weg und erreichte nach 5-stündigem Aufstieg über den gut markierten Steig die in 3100 m Höhe gelegene, verschneite Similaun-Hütte.
Nach einer ersten Inaugenscheinnahme der Hütte machte ich mit meinen mitgebrachten Kurz-Skiern eine erste Erkundungstour in die Umgebung meiner zünftigen Behausung unter halb der Bergkette der Ötztaler Alpen mit ihren majestätischen Gipfeln, unter denen der Gipfel des 3.666 Meter hohen Similaun herausragte.
Als die Dunkelheit hereinbrach, entfachte ich mit dem im Vorraum gestapelten Holzvorrat ein Feuer im Kamin, verstaute ich den Inhalt des schweren Rucksacks, der mit Vorräten für 3 Personen und einem Weihnachtsgesteck bis zum äußersten Rand voll gestopft war.
Elektrischen Strom gab es damals auf der Hütte noch nicht, aber Petroleumlampen mit einem großen Vorrat an Brennstoff in Kanistern.
Später am Abend bereitete ich mir aus den mitgebrachten Vorräten ein Abendeseen zu. Dann überfiel mich ein tiefer Schlaf.
Am nächsten Tag, an dem meine Brüder um die Mittagszeit eintreffen wollten, bezog sich vormittags der bis dahin tiefblaue Himmel. Bald begann es zu schneien, erst in vereinzelten Flocken, später in immer dichter und dichter werdenden Schwaden. Und Wind kam auf, der sich nach und nach zu einem ausgewachsenen Schneesturm entwickelte.
Auf meine Brüder wartete ich an diesem Tag vergebens. Ich konnte mit ihnen keinen Kontakt aufnehmen, weil es zu der damaligen Zeit noch kein Telefon auf den Berghütten gab; und Handys waren noch nicht erfunden.
Und da es auch kein Radio auf der Hütte gab, war ich von der Umwelt ganz und gar abgeschnitten.
Es stürmte und schneite ununterbrochen. Am späten Nachmittag machte ich mich langsam mit dem Gedanken vertraut, HeiligAbend allein in der Similaun-Hütte zu verbringen zu müssen.
Von Zeit zu Zeit kämpfte ich mich durch Schneewehen nach draußen, um Fenster, Hüttentür und Zugang notdürftig freizuschaufeln und den Holzvorrat am Kamin zu ergänzen, der in einem Verschlag vor der Hütte aufgestapelt war.
Bei einem Nachschubgang nach draußen meinte ich am Holzstapel ein Glöckchen bimmeln gehört zu haben. Ich blickte angestrengt in das Schneetreiben, aber in der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Ich lauschte, jedoch das Geräusch wiederholte sich nicht, nur das Brausen des Sturmes setzte nach einer kurzen Unterbrechung wieder mit Macht ein. Da musste mir die Einbildung einen Streich gespielt haben, ging es mir durch den Kopf.
Gerade als ich wieder mit einem Arm voll Holz in der Hütte angekommen war, meinte ich an der Hüttentür ein Klopfen gehört zu haben. Das konnte eigentlich nicht sein. Ich schrieb das dem Schneesturm zu, der sich irgendwo Klopflaute erzeugend verfangen hatte. Gerade wollte ich mich an den Kamin setzen, als das Klopfen wieder ertönte, diesmal lauter und deutlicher. Erstaunt begab ich mich zur Tür, um dessen Ursprung im dichten Schneetreiben auszumachen.
Und da sah ich es beim Öffnen der Tür: vor mir stand eine verschneite Gämse, die wohl mit ihren Hörnern gegen die Hüttentür gestoßen hatte.
Woher kam bei diesem Wetter eine Gämse, die bei dieser Witterung eigentlich den Aufenthalt im tiefer gelegenen Wald bevorzugte?, ging es mir durch den Kopf. Als ich am Hals des Tieres ein Band mit Glöckchen und mit einem eingeklinkten Karabinerhaken entdeckte, war mir klar, dass es sich bei meinem Gast mit noch kleinen Hörnchen um eine zahme Gämse handeln musste, die vielleicht aus einem Stall entlaufen und sich bis hierher verirrt hatte.
Ohne meine Reaktion auf den unverhofften Besuch abzuwarten, lief sie an mir vorbei und blieb vor dem Kamin stehen. Sie muss diese Hütte kennen, dachte ich bei mir, vielleicht gehört sie ja dem Hüttenwirt vom Gasthof Similaun und war im Sommer öfter hier oben gewesen?
Ich legte das Holz ab und überlegte, was ich nun unternehmen sollte. Das Tier nach draußen zu jagen kam nicht in Frage. Also musste ich der Gämse einen Herbergs- und Schlafplatz richten. Dafür diente mir eines der Strohbetten aus dem Gemeinschaftsschlafraum, auf dem sich die Gämse mit eingeknickten Beinen sofort niederließ. Daran erkannte ich, dass es ein junges Tier war, das mit Menschen zusammen lebte und deshalb auch keine Scheu vor mir hatte.
Ich wusste, dass die Nahrung von Gämsen im Sommer aus Kräutern, Blättern,
Kiefernnadeln und Alpenkräutern und im Winter aus Moos, Flechten und Gräsern bestand. Aber woher sollte ich bei dem Schnee Futter nehmen?
Als ob die Gämse meine Überlegungen ahnte, erhob sie sich plötzlich und strebte auf die Tür der Vorratskammer zu, in der ich tatsächlich Trockenfutter für Rehe fand. Die sichtlich ausgehungerte Gämse verschmähte die Nahrung nicht, auch nicht das Wasser, das ich ihr in einer Schüssel hinstellte.
HeiligAbend mit einer Gämse statt mit meinen Brüdern zu verleben, das hatte ich mir nicht träumen lassen. Bald fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu und so bekam sie nicht mit, dass ich die Kerzen des mitgebrachten Weihnachts-gestecks anzündete und die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evange- lium mir leise vorlas. Dann bereitete ich mir aus den mitgebrachten Vorräten eine Mahlzeit zu, die ich mit einem Glas Rotwein krönte.
Gedankenverloren saß ich vor dem langsam verlöschenden Kaminfeuer, zu meinen Füßen eine schlafende Gämse. Das Bild der Krippe von Bethlehem tauchte vor meinem inneren Auge auf, nur dass da damals kein Schneesturm draußen tobte. Aber das Bild eines Hirten, der zwar keine Schafherde hütete, aber eine Gämse wie ich, drängte sich mir auf.…
Um Mitternacht hörte es auf zu stürmen und zu schneien. Ich trat vor die Tür, aber nicht allein: die Gämse stand plötzlich neben mir und drückte ihren Körper an meine Beine. Sie ließ sich streicheln und stupste mich immer wieder zutraulich mit ihren noch kleinen Hörnern.
Die Wolkendecke lichtete sich buchstäblich in Windeseile und bald funkelten am sternklaren Himmel die Sterne; weit unten im Tal blinkten die Lichter von Vent; der hell erleuchtete Marktplatz, auf dem ein riesiger Tannenbaum aufgestellt war, war schemenhaft zu erkennen. Von Zeit zu Zeit drangen Glockenklänge der Mitternachtsmesse an mein Ohr.
Dann war es still.
Fasziniert betrachtete ich dieses Schauspiel, das nur uns, dem einsamen Mensch mit seiner Gämse vor einer Berghütte zu gelten schien.
Am ersten Weihnachtstag wollte ich mit Schneebrettern den Abstieg ins Tal wagen. Aber wie sollte die Gämse ins Tal kommen? Laufen konnte sie in dem inzwischen hoch aufgetürmten Schnee bergab ins Tal nicht.
Da hatte ich eine Idee, die ich gleich in die Tat umsetzte. Ich hüllte die Gämse vorsichtig in eine für Bergrettungseinsätze vorgesehene Plane, was sie geduldig mit sich geschehen ließ, als ob sie ahnte, dass diese Maßnahme zu ihrem Transport diente.
Und dann zogen wir langsam bergabwärts: ein seltsames Gespann, bestehend aus einem Mann auf Schneeschuhen, der eine gefüllte Plane hinter sich herzog.
Meine mir am Ortseingang entgegen kommenden Brüder hatten sich schon Sorgen um meinen Verbleib gemacht, aber gehofft, dass ich den Schneesturm in der Hütte gut überstanden hätte. Bestärkt wurde Ihre Hoffnung auf meine Unversehrtheit darin, dass ich von der mitgeführten Signalpistole keinen Gebrauch gemacht hatte, denn das Aufleuchten eines roten Notsignals am Himmel wäre vom Tal aus zu sehen gewesen…
Meine Brüder staunten nicht schlecht über mein lebendiges Mitbringsel, das ich vorsichtig aus der Plane zog und auf die Beine stellte.
Die junge Gämse trabte davon und fand ihr Zuhause von ganz allein wieder,
Die Freude über dieses unverhoffte Weihnachtsgeschenk war vor allem bei der kleinen Tochter Vroni des Gastwirts des Gasthofs Gstrein riesengroß, denn niemand hatte mit dem Überleben der Gämse mit dem schönen Namen Mathilda bei dem Unwetter gerechnet. Als Kitz war sie im Frühsommer von der Tochter in verletztem Zustand in den Bergen gefunden und nach ihrer Rettung mit der Flasche aufgezogen worden. Und da Vroni im Sommer öfter mit Mathilda Besuche in der Berghütte machte, kannte die Gämse natürlich den Weg dorthin und hatte ihrem Instinkt folgend einen Unterschlupf in der Hütte gesucht…
Nach drei Tagen Gastfreundschaft bei der Familie Gstrein fiel mir der Abschied von der Weihnachtsgämse Mathilda doch schwer; sie schaute mir noch lange nach, als ich mich mit meinen Brüdern von ihr und Vroni verabschiedete...
ENDE
Manfred Kolb idF 24.12.2020
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