„Zu ebener Erde“
Roman von Christine Teichmann
Edition Keiper, ISBN 978-3-903144-73-6
Wenn der eigene Vater Idomeneo heißt, dann...
Ja, dann geht es drunter und drüber in Christine Teichmanns
neuen Roman. Beginnend mit den Regieanweisungen für seinen eigenen Tod an seine
Kinder besticht der alte, leider nie zu ganzer Größe aufgestiegene
Provinzschauspieler. Alles ist dem „Alten“ Spiel, seine größte Leidenschaft
fand er in den Shakespeare Rollen. Die er selten genug verkörpern durfte - doch
der Richard III lag ihm auf der Zunge, den zitierte er ständig. Aber im
Bühnenalltag blieben ihm halt die Nestroyrollen vorbehalten.
Wir begleiten die beiden Kinder des sagenhaften Mimen
Idomeneo Parsenus, die ganz normal Ida und Gabriel heißen auf ihrem Weg durch
die Kindheit, die Schulzeit, die Pubertät, die junge Liebe bis zur Entdeckung
des großen Geheimnisses auf Seite 205. Nein, es wird in der Rezension nicht
verraten, wobei der aufmerksame Leser, diese Entdeckung schon einiges früher
erahnen wird.
Ein Künstlerehepaar, er der oben geschilderte Schauspieler,
die Mutter eine Mezzosopranistin mit einigen vielversprechenden Auftritten.
Dann kommen die beiden Schwangerschaften, viel später erfahren wir von einer
Kollegin der Mutter, dass diese der Stimme geschadet hätten. Jedenfalls eines
Tages sind die beiden Kinder mit dem Vater allein gelassen. Mutter ist weg. Wie
herrlich für die Kinder! Niemand fragt nach Schularbeiten, Hausaufgaben,
niemand fragt ob die Zähne geputzt sind, die Füße gewaschen. Das frühkindliche
Paradies ist ausgebrochen! Bis halt nix mehr zum Anziehen ist, keine Wäsche
gewaschen, der Kühlschrank leer und die Küche kalt bleibt. Haushälterinnen
versuchen verzweifelt (und vergeblich) Ordnung in das Chaos zu bringen, den
Kindern liebgewordene Gewohnheiten auszutreiben, kurz alles was von Menschen,
die eine solche Aufgabe eben ernst nehmen, erwartet würde. Doch sind sie da an
die Falschen geraten. Gabriel und Ida verstehen es, die immer schneller
wechselnden Haushälterinnen „auflaufen“ zu lassen, sich durchzusetzen.
Beziehungen entstehen, Schulbesuche, Schulfreunde wechselten, die Liebe
zwischen den Geschwistern ist nicht mehr zu übersehen. Nur vom Vater wird sie
nicht bemerkt, zusätzliche Aufgaben erhält er, darf im Landesstudio des
Rundfunks Texte lesen, Gedichte vortragen. Dazu muss er früh aus dem Haus und
die Kinder genießen die Ferienzeit in vollen Zügen. Ida sagt zu ihrem Bruder,
‚Wenn Vater schleicht, spielt er schleichen’ und so hören sie es, wenn er
frühmorgens auf angeblich leisen Sohlen das Haus verlässt. Selten ist eine
beginnende Liebe zwischen jungen Menschen so behutsam geschildert worden, wie
die zwischen Ida und Gabriel. Und immer dazwischen die Frage, was ist mit
unserer Mutter geworden? Eines Tages, Idomeneo erzählte immer häufiger von
einem neuen Freund namens Karl, brachte diesen auch in die Wohnung mit und der
stellte sich als der Ruhepunkt und der Helfer und Ratgeber für die Kinder
heraus. Gerade zum rechten Zeitpunkt betritt dieser Neue die Situation. Die
großen Ferien trennen die Geschwister, Gabriel muss sein Praktikum in einem
Hotel absolvieren, Ida bleibt zu Hause und muss lernen. Sie begleitet Karl zur
Kur in ein burgenländisches Dorf. Gabriel erlebt die Ausbeutung der
Ferialpraktikanten auf seinem Arbeitsplatz, die Belästigungen und die so
genannten Abwechslungen in der kargen Freizeit mit und durch die
Arbeitskollegen – der ganz normale Alltag in den Fremdenverkehrsbetrieben. Ist
es Selbsterlebtes der Autorin, ist es Nacherzähltes, egal die Schilderungen der
Erlebnisse Gabriels sollten Hinweise sein, um die Personalsituation in der
österreichischen Feriengastronomie zu überdenken und die Klagen über
Personalmangel kritisch zu hinterfragen. Doch das ist nicht Thema des Buches.
Die Geschwister vermissen sich und nach den Ferien ist nichts mehr so zwischen
ihnen, wie es vorher war. Karl hat eine gewisse Führung im chaotischen Haushalt
übernommen.
Es kommt, was kommen muss: Gabriel will endlich das
Verschwinden der Mutter aufklären. Vater scheidet aus, bereits gestorben, sehr
theatralisch und wirkungsvoll. Karl ist ein Fremder, der zwar gerade nach dem
Tod des Idomeneo für geordnete Abläufe sorgt, die Hinterlassenschaft des Alten
regeln hilft, einfach als Freund den Kindern zur Seite steht. Gabriel macht
sich auf, Spuren seiner Mutter zu suchen: ehemalige Kolleginnen, Regisseure mit
denen sie gearbeitet hatte, alle bedauern, dass sie nach der Geburt des letzten
Kindes nicht mehr auf die Bühne zurück gekehrt sei. ‚Sie war so eine herrliche
Mezzosopranistin, aber was bleiben diesen für Rollen? Die Hosenrollen! Den
Busen hinter Brustpanzern wie in den Wagneropern oder geschnürt und weggesperrt
bei Mozart und Strauß. Und dann die Schwangerschaft...“ Nein von den
Kolleginnen war nichts in Erfahrung zu bringen. Erst ein Schulkollege konnte
Gabriel weiterhelfen, doch das sei hier nicht verraten.
Die Geschichte ist klar strukturiert, die Erzählstränge geordnet,
es ist kein Vor- und Zurückblättern erforderlich, um den „Faden nicht zu
verlieren“. Die Sprache ist teilweise sehr schön und niveauvoll, der Jugend der
beiden Protagonisten angepasst ohne in die heute üblichen Messagesformeln zu
verfallen. Eine Defloration wird so zartfühlend geschildert, dass man wünschen
könnte, alle sollten dieses Ereignis so erleben können. Anderseits wird nicht
mit Kraftausdrücken gespart, wenn der Vater Idomeneo bei „Danton Tod“ mit
‚nacktem Arsch’ auftreten muss (und die Kinder das bei der Premiere auch
erleben). Doch ist auch diese Wortwahl dem Geschehen angepasst. Ob der Hintern
an dieser Stelle die gleiche Wirkung gehabt hätte, um den Abscheu der Kinder
auszudrücken?
Christine Teichmann hat nach den „Gauklern“ und den
„Raubtieren“ das Zirkusmilieu verlassen, sich dem Theater, den
Pubertätsproblemen zugewendet, die Situation der Jungen in den ersten
Berufsstationen sehr drastisch geschildert. Sie scheut sich nicht, auch die
Frage der Geschwisterliebe, des Inzest aufzuzeigen. Ohne drohendem Zeigefinger,
sondern einfach als eine Möglichkeit in einer unglaublichen Situation: Vater
Schauspieler und Chaot, Mutter verschwunden, irgendwie Geborgenheit, Zutrauen,
Liebe zu erfahren. Es geht keinesfalls darum, Steine zu werfen! Rettung aus den
unmöglichsten Situationen bringt dann der späte Freund des Vaters, der
geheimnisvolle Karl.
Machen Sie sich auf, Ida und Gabriel zu folgen, zu erleben,
wie Idomeneo über die Provinzbühnen wirbelt. Bei allem Geschehen, es kommt auch
der Humor nicht zu kurz!
Hans Bäck
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