Begegnung am Abend
von Angelika Stephan
„Hallo,
Entschuldigung, könnten Sie mir bitte einen 10-Euro-Schein wechseln?“
Bärbel hob ihren Arm, um auf sich
aufmerksam zu machen und ging auf den jungen Mann zu, der mit Rastazöpfen,
ausgebeulten Jeans und Winterparka die Treppe hoch gelaufen kam, die zu den
U-Bahnen führte. Da der junge Mann ganz in seiner Musik vertieft schien, tippte
sie kurz auf dessen Schulter. Erstaunt drehte er seinen Kopf in ihre Richtung
und stöpselte sich einen seiner Kopfhörer, die zu dem in der Innentasche
versteckten I Phone gehörten, aus dem Ohr.
„Könnten Sie
mir einen Geldschein für den Fahrkartenautomaten wechseln?“, wiederholte sie.
Lächelnd zog der junge Mann die beiden leeren Hosentaschen seiner Jeans nach
außen, ging wortlos weiter und steckte dabei den winzigen Kopfhörer zurück in
sein Gehör. Bärbels Herzschlag
beschleunigte sich. Das war bereits der dritte Passant, der nicht in der Lage
gewesen war, ihren zerknitterten 10-Euro-Schein zu wechseln, den der
Fahrkartenautomat nicht annehmen wollte. Und so menschenleer hatte sie diese
U-Bahn-Haltestelle auch noch nie erlebt. Vermutlich war es eine Störung in der
Bahnanlage. Ihr Kopf schwankte hin und her, und sie zog hörbar die Luft durch
ihre Nase. Dann ging sie einige Stufen zur U-Bahn hinab, schaute sich prüfend
um. Dort schien auch noch keine Bahn angekommen zu sein, denn niemand kam
weiterhin die Stufen herauf.
Ihre Freundin Christel hatte sie
ganz spontan zu einer kleinen Adventfeier eingeladen, die morgen stattfinden
sollte. Drei Stunden war Bärbel daher bei strömenden Regen und Schneematsch
durch die Innenstadt gelaufen, um etwas Nettes für ihre Freundin auszusuchen
und zusätzlich eine Bluse und ein Paar Stiefel für sich zu kaufen.
„Ich fühle
mich, als ob ich beim Wettbewerb *Wer kann am schnellsten das Unkraut im Garten
platt treten* mit meinen geschwollenen Füßen durchaus den ersten Platz belegen
könnte“, seufzte sie, während sie abwechselnd ihre Füße kreisen ließ und dabei
schmerzhaft das Gesicht verzog. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war
bereits 20:55 Uhr.
Das Kleingeld für einen
Fahrschein hatte sie restlos ausgegeben. Sie besaß nur noch diesen
10-Euro-Schein, den niemand wechseln konnte oder wollte.
„Wie geht es
nun weiter?“, überlegte sie. „Die Geschäfte haben noch bis 22:00 Uhr geöffnet.
Muss ich jetzt tatsächlich in den strömenden Regen zurück, um das Geld in einem
der Kaufhäuser wechseln zu lassen?“
Bärbel bückte sich missmutig nach
ihrer riesigen Einkaufstasche, die, so erschien es ihr beim Anheben, an Gewicht
zugenommen hatte. Als sie dann nach ihrem tropfnassen Schirm griff, der noch
immer an dem Fahrkartenautomaten lehnte, sah sie plötzlich, wie aus dem Nichts
ein Mann undefinierbaren Alters zielstrebig auf sie zugelaufen kam. Der Anblick
seiner ungepflegten Erscheinung und großen, kräftigen Statur wirkte auf sie
bedrohlich. Hilfesuchend blickte sie sich um. Doch noch immer war hier niemand,
außer ihnen, zu sehen. Bärbel spürte, wie sich ihr Magen zusammen zog. Den
Blick nun krampfhaft nach vorne gerichtet, den Schirm fest in der Hand, mit der
unerschütterlichen Absicht, ihn als Waffe zu benutzen, eilte sie Richtung
Ausgang. Das Gewicht ihrer Einkaufstasche spürte sie nicht. Ihre Schritte
wurden schneller. Die Schritte ihres Verfolgers passten sich ihrem Schritttempo
an. Angstvoll schaute sie sich um. Da sah sie den Mann wild gestikulierend
hinter sich herlaufen.
„Warten Sie
doch, ich will Ihnen doch nur helfen!“, drang es an ihr Ohr.
Abrupt bleib sie stehen. Ihr
Verfolger hielt ebenfalls atemlos inne, ließ seine Arme nach vorne fallen,
richtete sich wieder auf. Leicht nach vorn gebeugt, eine Hand in die Hüfte
gestemmt, schaute er sie dann an. Sie wartete in ausreichendem Abstand, ihre
Muskeln immer noch angespannt, um jederzeit die Flucht fortzusetzen.
„Ich habe Sie
von dort drüben eine Weile beobachtet“, sagte er, noch etwas schwer atmend, und
zeigte mit einem Finger auf eine unbeleuchtete Ecke in der Nähe des
Fahrkartenschalters.
„Sicherlich
brauchen Sie Wechselgeld. Ich habe genug Kleingeld. Wenn Sie wollen, gebe ich
es Ihnen.“ Irritiert schaue Bärbel ihn
an. Den Mann hatte sie zuvor dort nicht bemerkt. Verlegen versuchte er mit den
Händen seine schmutzigen Hosenbeine glatt zu streichen.
„Ich kann ja
verstehen, wenn Sie sich fürchten, so, wie ich jetzt aussehe. Aber, wissen Sie,
ich hatte auch ein Leben vor diesem hier. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie
erschreckt haben sollte.“ Der Mann fuhr mit seiner Hand durch sein strubbliges,
graues Haar. Dann wandte er sich ab, um mit gesenktem Kopf wieder zu seinem
Liegeplatz, Karton auf kaltem Steinfußboden, zurückzukehren.
„Warten Sie“,
rief ihm Bärbel hinterher. Sie bemerkte, wie sich ihre Muskeln wieder
entspannten. Erstaunt hob er den Kopf und blickte sich um, blieb stehen.
„Es tut mir
leid, dass ich so reagiert habe. Aber sehr Vertrauen erweckend sehen Sie ja
wirklich nicht aus“, entschuldigte sich Bärbel nun und ging einige Schritte auf
ihn zu. Der Mann drehte sich um, kam auch langsam wieder näher. Leichter
Schweißgeruch wehte ihr entgegen.
„Schon gut,
ich kann Sie ja verstehen“, winkte er ab. Aus dem schmutzig verkrusteten
Gesicht blickten sie nun klare, blaue Augen an. Sie schätzte sein Alter auf
45-50 Jahre.
„Ich komme
gerne auf Ihr Angebot zurück, das mit dem Geldwechsel. Der Automat will meinen
10-Euro-Schein einfach nicht annehmen.“
Er nickte und griff mit einer
Hand in seine ausgebeulte Hosentasche. Auf seiner großen Handfläche, die er ihr
nun entgegenstreckte, lag jede Menge Kleingeld. Auch Bärbel kramte in ihrer
Handtasche herum, suchte in ihrem Portemonnaie den 10-Euro-Schein. Dann nahm
sie die Münzen von seiner Handfläche weg und reichte ihm dann den Geldschein.
Einen Euro gab sie ihm wieder zurück. Er nickte erfreut.
„So brauche
ich nicht mehr in diesen fürchterlichen Regen. Vielen Dank fürs Geldwechseln“,
sagte sie zu ihm.
„Ja, dieser
Regen zieht in die Knochen“, bestätigte er. „Wenn ich dort auf meinem Karton
sitze, spüre ich die Kälte, werde aber wenigstens nicht nass. Oft gehe ich zur
Magdalenenstraße. Dort kann ich schlafen, bekomme Essen und ab und zu saubere
Wäsche. Doch bei dem starken Regen und der Kälte habe ich es nicht mehr
geschafft, heute dorthin gehen. Ich will mir ja keine Lungenentzündung holen.
Ich werde die Nacht wohl hier verbringen müssen. Vormittags war eine Menge los
hier, und es hatte sich für mich gelohnt, hier zu sitzen, sonst hätte ich ja
kein Wechselgeld gehabt. Vor Weihnachten sind die Menschen immer etwas
freigiebiger.“
„Ihr Geld hat
mir gut geholfen. Vielen Dank noch einmal. Ich möchte jetzt aber heim zu meiner Familie, die hat bestimmt
schon eine Vermisstenmeldung für mich aufgegeben“, entgegnete Bärbel etwas
scherzhaft und wandte sich dann ab, um endlich ihre Fahrkarte zu lösen.
„Haben Sie
Kinder?“, fragte er sie plötzlich. Sie drehte sich wieder um, blieb stehen.
„Ja, einen
Sohn“, kam ihre Antwort.
„Und ich hatte
eine Tochter“, begann er. „Sie war schon früh gestorben, wegen ihrer schweren
Behinderung. Das hatte meine Ehe nicht ausgehalten. Ohne es zu bemerken, griff
ich immer häufiger zur Flasche, um meinen Kummer zu betäuben. Wissen Sie, ich
hatte einen eigenen, gut gehenden Betrieb. Doch bald bekam ich keine Aufträge
mehr, weil ich meine Zusagen nicht mehr einhalten konnte, unzuverlässig wurde.
Die Kunden blieben aus. So kam ich in Zahlungsschwierigkeiten, verlor alles.
Zum Schluss konnte ich nicht mal die Miete bezahlen. Alles wegen der Sauferei.
Ich arbeite an meinem Problem, aber - es ist schwierig. Wie gesagt, es gab auch
einmal ein Leben vor diesem hier“, erinnerte er sich, und seine Augen füllten
sich mit Tränen. Doch schnell, als schämte er sich seiner aufsteigenden
Gefühle, fuhr er mit dem Ärmel seines dreckigen Pullovers über sein Gesicht, um
die Tränen wegzuwischen. Bärbel reichte ihm ein Päckchen Tempotücher, das sie
immer dabei hatte. Dankbar nahm er die Papiertaschentücher an und schnäuzte
sich laut. Bewegt von seiner Lebensgeschichte überlegte Bärbel, wie sie ihn
wieder etwas aufmuntern könnte.
„Haben Sie
Hunger? Wie wäre es mit einem Brötchen?“, fragte sie ihn. Er nickte heftig.
„Ja, das wäre
toll“, antwortete er und schenkte ihr ein Grinsen, wobei überraschend gepflegte
Zähne sichtbar wurden. Bärbel nahm die Brötchentüte aus ihrer Einkaufstasche
und reichte sie ihm mit dem gesamten Inhalt.
„Vielen Dank!
Alles Gute für Sie und - frohe Festtage!“, wünschte er ihr und ging dann in
Richtung seines Sitzplatzes zurück.
„Ja, für Sie
auch alles Gute!“, rief ihm Bärbel zu. Nachdenklich schaute sie ihm noch einige
Sekunden hinterher. Ein Blick auf ihre Armbanduhr, 21:15 Uhr.
„Jetzt wird es
aber höchste Zeit.“ Sie lief zum Fahrkartenautomaten. Mittlerweile kamen auch
wieder einige Passanten die Treppe herauf. Bärbel wählte ihre Fahrkarte aus und
steckte das passende Kleingeld in den Geldschlitz. Der Automat spuckte nun die
ersehnte Fahrkarte aus. Bevor sie die Treppenstufen zur U-Bahn hinunterging,
winkte Bärbel dem Mann, der wieder auf seinem Kartondeckel Platz genommen
hatte, zaghaft zu. Mit einem Lächeln winkte er zurück, während sie langsam
Treppe abwärts aus seinem Blickfeld verschwand.
Aus einem dichten Nebelschleier
heraus drang aus weiter Ferne eine Stimme an Bärbels Ohr, die stetig an
Lautstärke zunahm.
„Hallo,
haaallo! Willst du denn nicht aufstehen? Du wolltest doch noch in die Stadt
fahren.“ Der Nebelschleier lichtete sich nun, war schließlich ganz
verschwunden. Benommen schaute Bärbel ihren Ehemann an, der sie vorwurfsvoll
anblickte und dabei ihre Schultern leicht antippte. Mühsam richtete sie sich
auf, rieb ihre Augen.
„Da bin ich
doch tatsächlich eingedöst. Das Mittagessen war einfach zu gut.“ Bärbel schaute
auf ihre Armbanduhr. Es war 15:00 Uhr. Sie würde immer noch genügend Zeit für
ihre Einkäufe haben. Bevor sie sich dann in die Stadt aufmachte, kontrollierte
sie ihre Geldbörse, nahm etwas Kleingeld heraus und steckte es in ihre
Jackentasche.
‚Für alle
Fälle‘, dachte sie.
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