Donnerstag, 6. Dezember 2018

Adventskalender: 6. Dezember 2018 - Nikolaus


Begegnung am Abend

von Angelika Stephan

„Hallo, Entschuldigung, könnten Sie mir bitte einen 10-Euro-Schein wechseln?“
Bärbel hob ihren Arm, um auf sich aufmerksam zu machen und ging auf den jungen Mann zu, der mit Rastazöpfen, ausgebeulten Jeans und Winterparka die Treppe hoch gelaufen kam, die zu den U-Bahnen führte. Da der junge Mann ganz in seiner Musik vertieft schien, tippte sie kurz auf dessen Schulter. Erstaunt drehte er seinen Kopf in ihre Richtung und stöpselte sich einen seiner Kopfhörer, die zu dem in der Innentasche versteckten I Phone gehörten, aus dem Ohr.
„Könnten Sie mir einen Geldschein für den Fahrkartenautomaten wechseln?“, wiederholte sie. Lächelnd zog der junge Mann die beiden leeren Hosentaschen seiner Jeans nach außen, ging wortlos weiter und steckte dabei den winzigen Kopfhörer zurück in sein Gehör.  Bärbels Herzschlag beschleunigte sich. Das war bereits der dritte Passant, der nicht in der Lage gewesen war, ihren zerknitterten 10-Euro-Schein zu wechseln, den der Fahrkartenautomat nicht annehmen wollte. Und so menschenleer hatte sie diese U-Bahn-Haltestelle auch noch nie erlebt. Vermutlich war es eine Störung in der Bahnanlage. Ihr Kopf schwankte hin und her, und sie zog hörbar die Luft durch ihre Nase. Dann ging sie einige Stufen zur U-Bahn hinab, schaute sich prüfend um. Dort schien auch noch keine Bahn angekommen zu sein, denn niemand kam weiterhin die Stufen herauf.

Ihre Freundin Christel hatte sie ganz spontan zu einer kleinen Adventfeier eingeladen, die morgen stattfinden sollte. Drei Stunden war Bärbel daher bei strömenden Regen und Schneematsch durch die Innenstadt gelaufen, um etwas Nettes für ihre Freundin auszusuchen und zusätzlich eine Bluse und ein Paar Stiefel für sich zu kaufen.
„Ich fühle mich, als ob ich beim Wettbewerb *Wer kann am schnellsten das Unkraut im Garten platt treten* mit meinen geschwollenen Füßen durchaus den ersten Platz belegen könnte“, seufzte sie, während sie abwechselnd ihre Füße kreisen ließ und dabei schmerzhaft das Gesicht verzog. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war bereits 20:55 Uhr.
Das Kleingeld für einen Fahrschein hatte sie restlos ausgegeben. Sie besaß nur noch diesen 10-Euro-Schein, den niemand wechseln konnte oder wollte.
„Wie geht es nun weiter?“, überlegte sie. „Die Geschäfte haben noch bis 22:00 Uhr geöffnet. Muss ich jetzt tatsächlich in den strömenden Regen zurück, um das Geld in einem der Kaufhäuser wechseln zu lassen?“

Bärbel bückte sich missmutig nach ihrer riesigen Einkaufstasche, die, so erschien es ihr beim Anheben, an Gewicht zugenommen hatte. Als sie dann nach ihrem tropfnassen Schirm griff, der noch immer an dem Fahrkartenautomaten lehnte, sah sie plötzlich, wie aus dem Nichts ein Mann undefinierbaren Alters zielstrebig auf sie zugelaufen kam. Der Anblick seiner ungepflegten Erscheinung und großen, kräftigen Statur wirkte auf sie bedrohlich. Hilfesuchend blickte sie sich um. Doch noch immer war hier niemand, außer ihnen, zu sehen. Bärbel spürte, wie sich ihr Magen zusammen zog. Den Blick nun krampfhaft nach vorne gerichtet, den Schirm fest in der Hand, mit der unerschütterlichen Absicht, ihn als Waffe zu benutzen, eilte sie Richtung Ausgang. Das Gewicht ihrer Einkaufstasche spürte sie nicht. Ihre Schritte wurden schneller. Die Schritte ihres Verfolgers passten sich ihrem Schritttempo an. Angstvoll schaute sie sich um. Da sah sie den Mann wild gestikulierend hinter sich herlaufen.
„Warten Sie doch, ich will Ihnen doch nur helfen!“, drang es an ihr Ohr.
Abrupt bleib sie stehen. Ihr Verfolger hielt ebenfalls atemlos inne, ließ seine Arme nach vorne fallen, richtete sich wieder auf. Leicht nach vorn gebeugt, eine Hand in die Hüfte gestemmt, schaute er sie dann an. Sie wartete in ausreichendem Abstand, ihre Muskeln immer noch angespannt, um jederzeit die Flucht fortzusetzen.
„Ich habe Sie von dort drüben eine Weile beobachtet“, sagte er, noch etwas schwer atmend, und zeigte mit einem Finger auf eine unbeleuchtete Ecke in der Nähe des Fahrkartenschalters.
„Sicherlich brauchen Sie Wechselgeld. Ich habe genug Kleingeld. Wenn Sie wollen, gebe ich es Ihnen.“  Irritiert schaue Bärbel ihn an. Den Mann hatte sie zuvor dort nicht bemerkt. Verlegen versuchte er mit den Händen seine schmutzigen Hosenbeine glatt zu streichen.
„Ich kann ja verstehen, wenn Sie sich fürchten, so, wie ich jetzt aussehe. Aber, wissen Sie, ich hatte auch ein Leben vor diesem hier. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt haben sollte.“ Der Mann fuhr mit seiner Hand durch sein strubbliges, graues Haar. Dann wandte er sich ab, um mit gesenktem Kopf wieder zu seinem Liegeplatz, Karton auf kaltem Steinfußboden, zurückzukehren.
„Warten Sie“, rief ihm Bärbel hinterher. Sie bemerkte, wie sich ihre Muskeln wieder entspannten. Erstaunt hob er den Kopf und blickte sich um, blieb stehen.
„Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe. Aber sehr Vertrauen erweckend sehen Sie ja wirklich nicht aus“, entschuldigte sich Bärbel nun und ging einige Schritte auf ihn zu. Der Mann drehte sich um, kam auch langsam wieder näher. Leichter Schweißgeruch wehte ihr entgegen.
„Schon gut, ich kann Sie ja verstehen“, winkte er ab. Aus dem schmutzig verkrusteten Gesicht blickten sie nun klare, blaue Augen an. Sie schätzte sein Alter auf 45-50 Jahre.
„Ich komme gerne auf Ihr Angebot zurück, das mit dem Geldwechsel. Der Automat will meinen 10-Euro-Schein einfach nicht annehmen.“
Er nickte und griff mit einer Hand in seine ausgebeulte Hosentasche. Auf seiner großen Handfläche, die er ihr nun entgegenstreckte, lag jede Menge Kleingeld. Auch Bärbel kramte in ihrer Handtasche herum, suchte in ihrem Portemonnaie den 10-Euro-Schein. Dann nahm sie die Münzen von seiner Handfläche weg und reichte ihm dann den Geldschein. Einen Euro gab sie ihm wieder zurück. Er nickte erfreut.
„So brauche ich nicht mehr in diesen fürchterlichen Regen. Vielen Dank fürs Geldwechseln“, sagte sie zu ihm.
„Ja, dieser Regen zieht in die Knochen“, bestätigte er. „Wenn ich dort auf meinem Karton sitze, spüre ich die Kälte, werde aber wenigstens nicht nass. Oft gehe ich zur Magdalenenstraße. Dort kann ich schlafen, bekomme Essen und ab und zu saubere Wäsche. Doch bei dem starken Regen und der Kälte habe ich es nicht mehr geschafft, heute dorthin gehen. Ich will mir ja keine Lungenentzündung holen. Ich werde die Nacht wohl hier verbringen müssen. Vormittags war eine Menge los hier, und es hatte sich für mich gelohnt, hier zu sitzen, sonst hätte ich ja kein Wechselgeld gehabt. Vor Weihnachten sind die Menschen immer etwas freigiebiger.“
„Ihr Geld hat mir gut geholfen. Vielen Dank noch einmal. Ich möchte jetzt aber  heim zu meiner Familie, die hat bestimmt schon eine Vermisstenmeldung für mich aufgegeben“, entgegnete Bärbel etwas scherzhaft und wandte sich dann ab, um endlich ihre Fahrkarte zu lösen.
„Haben Sie Kinder?“, fragte er sie plötzlich. Sie drehte sich wieder um, blieb stehen.
„Ja, einen Sohn“, kam ihre Antwort.
„Und ich hatte eine Tochter“, begann er. „Sie war schon früh gestorben, wegen ihrer schweren Behinderung. Das hatte meine Ehe nicht ausgehalten. Ohne es zu bemerken, griff ich immer häufiger zur Flasche, um meinen Kummer zu betäuben. Wissen Sie, ich hatte einen eigenen, gut gehenden Betrieb. Doch bald bekam ich keine Aufträge mehr, weil ich meine Zusagen nicht mehr einhalten konnte, unzuverlässig wurde. Die Kunden blieben aus. So kam ich in Zahlungsschwierigkeiten, verlor alles. Zum Schluss konnte ich nicht mal die Miete bezahlen. Alles wegen der Sauferei. Ich arbeite an meinem Problem, aber - es ist schwierig. Wie gesagt, es gab auch einmal ein Leben vor diesem hier“, erinnerte er sich, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Doch schnell, als schämte er sich seiner aufsteigenden Gefühle, fuhr er mit dem Ärmel seines dreckigen Pullovers über sein Gesicht, um die Tränen wegzuwischen. Bärbel reichte ihm ein Päckchen Tempotücher, das sie immer dabei hatte. Dankbar nahm er die Papiertaschentücher an und schnäuzte sich laut. Bewegt von seiner Lebensgeschichte überlegte Bärbel, wie sie ihn wieder etwas aufmuntern könnte.
„Haben Sie Hunger? Wie wäre es mit einem Brötchen?“, fragte sie ihn. Er nickte heftig.
„Ja, das wäre toll“, antwortete er und schenkte ihr ein Grinsen, wobei überraschend gepflegte Zähne sichtbar wurden. Bärbel nahm die Brötchentüte aus ihrer Einkaufstasche und reichte sie ihm mit dem gesamten Inhalt.
„Vielen Dank! Alles Gute für Sie und - frohe Festtage!“, wünschte er ihr und ging dann in Richtung seines Sitzplatzes zurück.
„Ja, für Sie auch alles Gute!“, rief ihm Bärbel zu. Nachdenklich schaute sie ihm noch einige Sekunden hinterher. Ein Blick auf ihre Armbanduhr, 21:15 Uhr.
„Jetzt wird es aber höchste Zeit.“ Sie lief zum Fahrkartenautomaten. Mittlerweile kamen auch wieder einige Passanten die Treppe herauf. Bärbel wählte ihre Fahrkarte aus und steckte das passende Kleingeld in den Geldschlitz. Der Automat spuckte nun die ersehnte Fahrkarte aus. Bevor sie die Treppenstufen zur U-Bahn hinunterging, winkte Bärbel dem Mann, der wieder auf seinem Kartondeckel Platz genommen hatte, zaghaft zu. Mit einem Lächeln winkte er zurück, während sie langsam Treppe abwärts aus seinem Blickfeld verschwand.

Aus einem dichten Nebelschleier heraus drang aus weiter Ferne eine Stimme an Bärbels Ohr, die stetig an Lautstärke zunahm.
„Hallo, haaallo! Willst du denn nicht aufstehen? Du wolltest doch noch in die Stadt fahren.“ Der Nebelschleier lichtete sich nun, war schließlich ganz verschwunden. Benommen schaute Bärbel ihren Ehemann an, der sie vorwurfsvoll anblickte und dabei ihre Schultern leicht antippte. Mühsam richtete sie sich auf, rieb ihre Augen.
„Da bin ich doch tatsächlich eingedöst. Das Mittagessen war einfach zu gut.“ Bärbel schaute auf ihre Armbanduhr. Es war 15:00 Uhr. Sie würde immer noch genügend Zeit für ihre Einkäufe haben. Bevor sie sich dann in die Stadt aufmachte, kontrollierte sie ihre Geldbörse, nahm etwas Kleingeld heraus und steckte es in ihre Jackentasche.

‚Für alle Fälle‘, dachte sie.





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