Der Tag, an dem der Engel fiel
von Dirk Becker
Martha
hatte gerade die Suppe aus dem Kessel über dem Herdfeuer in die Terrine auf dem
Tisch gefüllt, als Josh eintrat. „Mistwetter draußen“, brummte er und zog sich
den Pelzmantel aus. Schnee hing noch im Kragen. In der Wärme der Stube wurde es
zu Wasser, tröpfelte langsam aber stetig herab und versickerte in den staubigen
Ritzen des Holzbodens. Es war Winter, einer dieser besonders harten, lang
anhaltenden Winter.
Mit
zusammen gezogenen Augenbrauen zog Josh einen Stuhl unter dem Tisch hervor und
ließ sich darauf fallen. „Der Fuchs hat wieder zwei Hühner geholt, unsere
beiden besten Legehennen“, murmelte er zwischen zwei Bissen Brot. Sein
zahnloser Mund konnte die harte Kante nicht mehr kauen, deshalb behielt er es
etwas länger im Mund, um es mit Speichel aufzuweichen und so besser schlucken
zu können. „Unsere Katze hat Junge gekriegt“, sagte Martha und füllte seinen
Teller mit der dampfenden Suppe. „Eines hatte drei Beine, das andere fünf. Ein
drittes war ohne Kopf. Ich habe sie alle tot gemacht und hinter den Wall
geworfen. Vielleicht hat der Fuchs damit erst einmal genug.“
Schweigend
nahmen sie ihr Mahl ein. „Knut will einen Engel gesehen haben!“ Mit diesem Satz
zwischen zwei Löffeln Suppe, die in dünnen Rinnsalen an seinem Kinn hinunter
lief, unterbrach Josh das sprachlose Ritual der Mittagsstunde. Marthas Gesicht
erstarrte unter dem zusammengebundenen Kopftuch, die Suppenkelle verharrte
reglos über Joshs Teller. Sie starrte ihn an. „Wie – Engel? Was für einen
Engel?“ „Nun“, Josh schlürfte weiter seine Suppe, „einen Engel halt. So was
Weißes mit Flügeln und menschlichem Gesicht und einer ‚Aura’, wie Knut sagte. –
Wie dieses Teil, das über Deinem Kreuz in der Stube hängt.“ Schreckensbleich
saß Martha mehrere Minuten lang völlig bewegungslos auf ihrem Platz, die Kelle immer
noch auf halbem Wege zwischen Mund Teller in der Zeit erstarrt. „Nun guck nicht
so deppert“, knurrte Josh sie an. „Was ist denn schon dabei? Wird sich halt
verflogen haben oder der Knut hat mal wieder einen zu viel über den Durst
getrunken.“ Nach einer Weile setzte er hinzu: „Was mich bei seiner Alten nicht
wundern würde!“
Der
Nachmittag verlief wie gewohnt in schweigsamer Atmosphäre. Abends im Bett, kurz
vor dem Einschlafen, wandte sich Martha noch einmal zu Josh hinüber. „Das war
wirklich ein Engel? Ist Knut sich da ganz sicher?“ Josh zog sich genervt die
Decke bis über beide Ohren und grummelte: „Was weiß ich? Jedenfalls hat er es
behauptet. Wenn Du mir nicht glauben willst, frag ihn doch selbst. So, und
jetzt will ich schlafen, mir tut mein Kreuz weh vom Holzhacken!“
Mit
dem ersten Hahnenschrei war Josh aus dem Bett, schlurfte in den Stall, die
Hühner füttern und den Schweinen die Reste vom Mittagsmahl in den Trog zu
schütten, bevor er sich unter dem kalten Strahl der Hofpumpe wusch, seine
Arbeitskleidung anzog und auf den Weg machte. Martha war nach ihm aufgestanden,
hatte den Herd angefacht, den großen gusseisernen Kessel mit Wasser über die
Feuerstelle gehängt und kniete sich danach in der Stube vor dem großen Kreuz
über der alten Kommode nieder, um zu beten. „Lieber Herr Jesus Christ, unser
Gott. Wenn Du uns einen Engel gesandt hast, um uns von unseren Sünden zu
erlösen, so behüte ihn gut, denn die Menschen sind böse und erkennen deine
Boten nicht!“
Beim
Abendessen hatte Josh das Radio angestellt. Der Nachrichtensprecher verkündete
gerade, dass sich das Vogelgrippe-Virus, dem schon unzähliges Federvieh zum
Opfer gefallen war, mittlerweile über den gesamten nördlichen Landesbereich
ausgebreitet hätte. Der Bezirksveterinär habe jetzt Stallpflicht für alles
angeordnet, was nur irgendwie Flügel hätte, mit einem Schnabel besetzt sei oder
eine dieser beiden Gruppen zum Fressen gern hätte – wie Hunde und Katzen
beispielsweise. Martha dachte traurig an Katerle, der sich nun wohl schon einen
Schlafplatz im Schuppen gesucht hatte. Kummerfalten furchten ihre Stirn. Mit
griesgrämiger Miene schlürfte Josh die Suppe. „Abknallen!“, war sein einziger
Kommentar an diesem Abend.
Am
nächsten Morgen war Josh schon fort, als Martha aufwachte und ihre Tagesarbeit
begann. Das Katerle hatte sie vorsichtshalber in den Schuppen gesperrt, ihm
eine Schüssel mit Wasser und ausreichend Futter beigestellt und war ihm zum
Abschied noch einmal tröstend über das Fell gefahren. „Dir soll keiner etwas
tun! Sei froh, dass Du hier in Sicherheit bist. Die Jäger nehmen jetzt gar
keine Rücksicht mehr und knallen alles ab, was sich nur irgendwie bewegt.“ Sie
ging in die Stube, kniete vor dem Kreuz mit dem Jesus-Bild nieder und betete:
„Lieber Herr Jesus Christ, unser Gott. Wenn Du uns einen Engel gesandt hast,
dann lass ihn nicht über unsere Gegend fliegen. Schick ihn in die Wüste oder an
die Pole, dorthin, wo keine Menschen leben. Hier mögen die Leute keine Engel.
Ich verstehe, ... deine Schöpfung ist nicht immer perfekt, ... es ist nicht
einfach, das Gute vom Bösen zu trennen, ... lass das doch die Engel nicht
ausbaden, ... “
Mittags
setzte der vom meteorologischen Institut vorausgesagte Wintersturm ein. Der
Himmel verdunkelte sich. Glitzernde Flocken so groß wie Haselstrauchblätter
trieben fast waagerecht durch die Luft. Später als sonst kam Josh zum Essen. Er
sah aus wie ein Schneemann, über und über mit einer weißen Schicht bedeckt. In
der Wärme der Stube taute diese schnell weg und hinterließ dunkle Flecken auf
dem Boden. „Ich glaube, er hat ihn.“ Martha sah in verdutzt an. „Wen?“ Josh warf einen abschätzigen Blick
in die Schüssel und griff zum Löffel. „Schon wieder Kohlsuppe?“ Etwas lauter
als gewöhnlich sagte Martha: „Sei froh, dass Du überhaupt etwas zu Essen
bekommst. Unsere Vorräte sind bedenklich geschrumpft. Wenn nur endlich der
Frühling kommen würde. Aber wer hat denn nun wen oder was?“ Missmutig würgte
Josh an einem Kohlstrunk herum. „Der Knut“, murmelte er zwischen zwei
Kauvorgängen, „der hat den Engel abgeknallt.“ Martha blieb ein Stück Kohlblatt
im Halse stecken. Sie schluckte. „Der Knut, der hat … der hat was?!“ Josh sah
sie teilnahmslos an. „Der hat den Engel abgeknallt. Wegen der Vogelgrippe, sagt
Knut. Da müsse alles vom Himmel geholt werden, was fliegt. Und unseren Kater
hat er gleich mit erlegt. Saß auf einem Zaunpfahl, war vom Schneesturm ganz
weiß, sah auch aus wie so ein flatterhaftes Engel-Tier.“ Mit einem Ausdruck
ungläubigen Entsetzens stürzte Martha zur Haustür hinaus und kämpfte sich gegen
die Gewalt des Orkans zum Schuppen durch. Die Tür war verriegelt. Sie öffnete
das Schloss, trat in den halbdunklen Raum. Katerle war nicht da. Er wäre sonst
sofort angeschnurrt gekommen, um ihre Beine gestrichen, in der Hoffnung auf
Futter und liebevolle Zuwendung. In der hinteren Stallecke war ein Brett lose.
Es hing nach unten, klapperte im Wind und gab eine Öffnung frei, groß genug,
dass eine Katze dort hindurch schlüpfen konnte. Martha sank auf die Knie und
ließ ihren Tränen freien Lauf. „Katerle“, murmelte sie. „Und der Engel. Welche
Sünde! “
Auf
dem Brachfeld hinter dem Fichtenhain: Über und über mit weißen Federn bedeckt
und im Schneegestöber kaum zu erkennen, lag ein Wesen, das die doppelte Größe
eines Schwanes aufwies, wie ein abgestürztes Flugzeug auf dem gefrorenen Boden
- mit kreuzweise ausgebreiteten Flügeln. Den Rücken hatten Schrotkugeln weit
aufgerissen. Leuchtend rote Rinnsale flossen vom Körper weg in eine kleine
Senke, bildeten auf ihrem Weg bizarre Muster. Der Wind ließ lange, goldene Haare
chimärenhaft im diffusen Abendlicht tänzeln. Früher als sonst überzog die Nacht
wie ein dunkles Tuch die Welt.
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