Sonntag, 1. Januar 2023

Die Silvester-Fahrt auf der "Aurora"

von Manfred Kolb - 01.01.2020

Der Silvestertag 2019 begann verhältnismäßig ruhig. Kaum Knallerei und Böllerkrachen rund um den Hafen. Ich blickte vom Balkon aus in die Hafenbecken, wo mehrere Drehkräne in Betrieb waren. Es erstaunte mich, dass am Silvestertag noch vier Schiffe den Hafen angelaufen hatten, um ihre Ladung löschen zu lassen und neue aufzunehmen.

Ich beobachtete gerade die Anlegemanöver eines der Frachtschiffe, als mich das Telefon in die Wirklichkeit zurück rief. Ein guter Bekannter lud mich ein, am Silvesterabend als Gast auf seiner Motorjacht "Aurora" das mitternächtliche Feuerwerksspektakel und den Jahresbeginn 2020 von See aus zu erleben.

Ich sagte gleich zu und so fand ich mich am Silvesterabend um 23 Uhr mit Proviant und zwei Flaschen Champagner am hell erleuchteten Kai am Alten Hafen ein, um in See zu stechen.

Mit mir gingen der Besitzer und drei weitere Gäste an Bord, die es sich nicht nehmen ließen, schon kurz nach dem Ablegen die Korken knallen zu lassen.

Mit flotter Fahrt ging es in der mondklaren Nacht mit dem Eigner am Ruder hinaus in die Wismarer Bucht, wo uns nur ein schwer auszumachendes Fischerboot begegnete, weil dessen Positionslichter und die Beleuchtung an Deck nur spärlich war.

Um Mitternacht erlebten wir dann mit gestoppter Maschine in Höhe der Insel Walfisch driftend ein fantastisches Feuerwerk am Hafen und über der Innenstadt von Wismar. Auch im Vorort Seebad Wendorf waren faszinierende Raketensalven aus Feuerwerksbatterien zusehen. Lichterbögen, Sterngirlanden und bunte Fächersalven, stiegen in den nächtlichen Himmel auf und erleuchteten die Szenerie.

Nach 20 Minuten erlosch das Spektakel.

Wir alle an Bord hatten mit einem Glas Champagner auf das Neue Jahr angestoßen und einander viele guten Wünsche zugesprochen, als mich der Eigner beiseite nahm und mir bedeutete, dass er mit seinen Freunden aus gemeinsamer Studienzeit weiter feiern wolle. Dazu hätten sie sich wie in den Vorjahren nach altem Seemannsbrauch verabredet. Daher wolle er mir das Steuer der Jacht übergeben. Das sei im übrigen zulässig, da er ja als Kapitän mit Patent an Bord sei.

Ich erschrak, denn ich hatte bislang nur ein Beiboot mit einem Außenborder gesteuert.

Dass ich gerade den theoretischen Teil meiner Ausbildung zum Erwerb des Motorbootführerscheins "See" abgeschlossen hatte und auf die praktische Prüfung im März 2020 wartete, wollte ich dem Eigner nicht verraten.

Als ich noch überlegte, was ich dem Eigner antworten sollte, übergab er mir nach einer kurzen Einweisung kurzerhand den Zündschlüssel, verabschiedete sich mit einer Entschuldigung für seinen alkoholisierten Zustand und begab sich unter Deck, nicht ohne mich seines Beistands zu versichern, falls das erforderlich sein sollte.

Die Stimmung im Logis wurde, wie ich hören konnte, immer ausgelassener, denn der Alkohol verfehlte seine Wirkung nicht. Die Freunde aus gemeinsamer Studienzeit an der Lomonossow-Universität in Moskau hatten wohl eine ordentliche Portion Wodka mitgebracht.

Langsam bewegte ich mich über Deck zum Kommandostand.

Der Motor sprang sofort an und ich stellte den Gashebel auf "langsame Fahrt". Bedächtig bewegte sich das Boot nach einer Wende zurück zum Alten Hafen. Nach einer Weile beschleunigte ich das Tempo. Von Minute zu Minute wurde ich mit der Steuerung des Bootes vertrauter und sicherer. Ich studierte im Dunkel die Signale und die Betonnung der Wismarer Bucht und strebte so der Wismarer Bucht zu.

Ich traute mir sogar zu, ein der Wismarer Bucht langsam zustrebendes zweites Fischerboot in einem engen Bogen zu umkreisen, das dank seiner guten Beleuchtung ohne Schwierigkeiten auszumachen war. Als ich mit dem Suchscheinwerfer eine im Wasser treibende Holzkiste entdeckte, zögerte ich keinen Augenblick, diese nach einer Wende auf der Lee-Seite der Jacht mit dem Enterhaken an Bord zu hieven. Denn in der Hafeneinfahrt treibende Gegenstände konnten für die Schifffahrt gefährlich werden.

Nach erneuter Fahrtaufnahme zurück Richtung Hafen sah ich die lang gestreckte Kaimauer auf der Steuerbordseite auf mich zu kommen.

Im Dunkeln konnte ich im matten Schein aus einem Fenster des Technik- und Forschungszentrums der Universität erkennen, dass die Kaianlage noch von Gruppen von feiernden Menschen bevölkert war, die wohl gemeinsam das Neue Jahr ausgiebig begrüßen wollten.

Mit langsamer Fahrt näherte ich mich der Anlegestelle im stumpfen Winkel, dann band ich das Steuerrad fest, um die Fender an der Steuerbordseite des Bootes auszubringen.

Nach getaner Arbeit stellte ich die Maschine auf Stopp und driftete im Schneckentempo dwars auf die Kaimauer zu, wo hilfsbereite Menschen die von mir zugeworfenen Vorder- und Achterleine geschickt auffingen und die Tauösen um die Poller legten. Ganz langsam schwoite die Jacht an die Kaimauer, während ich die Festmacherleinen Stück für Stück nachspannte, bis die Jacht fest vertäut wieder ihren angestammten Liegeplatz eingenommen hatte. Dann löschte ich die Lichter, stellte die Maschine aus und zog den Zündschlüssel ab.

Das war geschafft, ging es mir erleichtert durch den Kopf.

Der Besitzer der Jacht und die beiden Gäste kamen aus dem Logis hervor gekrochen, bedankten sich und strebten schwankend davon. Dem Eigner konnte ich gerade noch den Zündschüssel zu stecken, dann war auch er im Gewühl der Menschengruppen verschwunden.

Auch ich machte mich auf den Weg in mein Zuhause im alten Kornspeicher. Als ich am späten Morgen zuhause erwachte und meine zu Boden gefallene Windjacke aufhob, fühlte ich einen Umschlag in einer der Taschen. Ich nahm ein Papier heraus, entfaltete es und sah als erstes den Kopfbogen des Marine-Clubs "Seeteufel", wo ich meinen Lehrgang zum Erwerb des Motorbootführerscheins gebucht hatte.

Dann las ich:

"Sehr geehrter Herr Kolb,

ich bestätige Ihnen hiermit, dass sie in der Nacht von 31.12.2019 auf den 01.01.2020 auf der Motorjacht "Aurora" die praktische Prüfung zum Erwerb des Motorbootführerscheins "See" erfolgreich abgelegt haben. Sie können sich die Ausfertigung des Patents am 06.01.2020 in unserem Büro abholen.

Ich wollte Sie mit der praktischen Prüfung nicht bis zu meiner Rückkehr von einem Törn auf der „Gorch Fock II “ Anfang März 2020 warten lassen

-gezeichnet Holger Bahrow (Vorsitzender der Prüfungskommission "See")“


Es dauerte eine Weile, bis ich diese erfreuliche Nachricht verdaut hatte.

Eine Frage blieb offen: wie gelangte die Holzkiste in die Hafeneinfahrt?

War das mit dem Fischerboot abgesprochen? Denn ich musste ja im praktischen Teil ein „Mann-über-Bord Manöver fahren…

Ich konnte Holger Bahrow nicht danach fragen, denn er war am Neujahrstag schon zu seinem Törn auf der „Gorch Fock“ aufgebrochen.

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