Zdenka Becker
Es ist schon fast halb Zwölf
Amalthea Verlag Wien
ISBN 978-3-99050-220-4
Wenn man Laden öffnet, Kästen ausleert oder Schachteln durchstöbert, dann taucht vieles aus. Knöpfe, vertrocknete Blumen, alte Karten und Fotografien, insgesamt Erinnerungen an längst Vergangenes und längst Verblichene. Vieles davon ist an Ereignisse gebunden, an die man sich gerne erinnert, andere wiederum möchte man am liebsten nicht erinnert haben. Doch nun ist die Kiste offen, die Lade herausgezogen, die Kastentüre geöffnet und es bleibt nichts andres übrig als in den Erinnerungen zu wühlen.
Die alte Frau desRomans, Hilde Dorn, ein Kind der zwanziger Jahres des letzten Jahrhunderts beginnt diese Erinnerungsarbeit, wohl wissend, dass in der ominösen (schweren braunen Holz-) Kiste ein Geheimnis verborgen ist. Sich dem stellen? Nach fast 70 Jahren ist das Geheimnis brüchig geworden, ähnlich wie die Bretter der alten Kiste. Junge Menschen des 21. Jahrhunderts die unbekümmert um persönliche Befindungen recherchieren und alles, aber wirklich alles herausfinden. Scheingebäude bekommen Risse, drohen einzustürzen. Und das alles mit der Sorge und der Pflege des Ehemanns Karl, der seinen persönlichen Frieden in der Demenz gefunden hat. Seine jahrelange Tätigkeit für das NS-Regime, sein Aufenthalt im Straflager der Briten, seine Arbeit um aufzubauen, das Leben der Familie zu ermöglichen, all das hat seine Kräfte aufgebraucht, seine Knochen verschlissen und sein Denken in ein freundliches Dahindämmern versetzt, von dem er nur aufwacht um zu urgieren, endlich „heimzufahren“. Die Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder verstreut in der gesamten Welt, ein Zivildiener kümmert sich um die alte Frau, hilft ihr in Haus und Garten, schleppt die alte braune Kiste vom Dachboden in den Garten. Öffnen, nein, das macht die alte Dame selber, da lässt sie niemand hinzu. Die übliche Vorfälle eines alten Paares, das stur versucht im angestammten Haus zu bleiben, sich vehement dagegen wehrt in ein Seniorenheim zu ziehen, Stürze, Notarzteinsätze, Anrufe der ältesten Tochter „Mama, wie könnt ihr nur…“ und diese auch, obwohl schon an die 70 noch mit ihren Mann im Beruf steht, zu Tagungen und Empfängen nach „London muss“ und genau „jetzt nicht weg kann, aber wenn ich zurück bin…“ Diese Abläufe sind hinlänglich bekannt. Die Autorin baut darüber einen Briefroman, der im Februar 1938 beginnt und der letzte Brief vom März 1945 datiert. Dazwischen das Leben im Alter, Erinnerungen eingeblendet an die Zeit als sie beide in Berlin lebten, und letztlich die Schlussphase im Dorf in der Nähe von St. Pölten. Liebevolle Briefe, Sorgen zwischen Traisen und Spree, Glückerlebnisse nicht ausgenommen. Das alles in einer sorgfältigen Sprache gearbeitet. Lediglich der Eintrag vom 21. August 2008 in Fischbach verstört etwas, da die agierende Tochter zu diesem Zeitpunkt schon fast 70 Jahre alt ist und noch immer darauf wartet dass ihr Sohn so weit sei und die Firma übernehmen könne und dann die Empfänge und Konferenzen endlich vorbei wären. Eine Zeiterscheinung? So wie die Jungen im Buch: Der Zivi Markus, dessen Freundin Milli, die nicht so etwas wie die moderne Welt darstellen wollen, sondern diese genau wie sie ist, leben. Und auch das schildert die Autorin präzis. Wie überhaupt die Präzision der Schilderungen der Arbeit des Ehemanns, des Karl Dorn abgeleitet ist. Es ist für den Rezensenten spannend gewesen, die Wege der jungen Hilde bei ihrer ersten Ankunft in Berlin am Anhalter Bahnhof (der ja zu diesen Zeitpunkt noch nicht zerstört war) über die Stresemannstrasse zu Wilhelmstrasse mitzugehen und sich des eigenen Wegs dort zu erinnern. Die Schilderungen des Berliner Lebens sind gut getroffen, die Zerstörungen durch die Fliegerangriffe weitgehend ausgeklammert, da die Protagonistin zu diesem Zeitpunkt schon wieder im heimatlichen Traisental war. Für viele Leser wird es interessant sein, nachzulesen, welche Bedeutung Zigaretten und Bezugsmarken für Rauchwaren in der Kriegszeit hatten. Heute, wo wir alle mit dem Rauchen aufhören, war es damals ein Geschenk des Himmels mit einer Post fünf oder zehn Zigaretten geschickt zu bekommen. Marmeladegläser im Paket die zerbrochen waren und ihren Inhalt über die Hemden verteilten, konnten verschmerzt werden. Zigaretten oder auch wenn es einmal nur Papier dafür war, das waren die echten Kostbarkeiten.
Ein interessantes Buch, das auf jeder Seite die Professionalität der Autorin erkennen lässt. Da gibt es nichts, was man beanstanden, zur Korrektur vorschlagen könnte. Und vielleicht auch ein Buch für die Generation Z, die „Spätgeborenen“ um zu erkennen, dass unser Leben nicht immer nur Milch und Honig für uns parat hatte.
Hans Bäck
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