Sonntag, 29. November 2020

Adventskalender: 29.11.2020 - 1.Adventssonntag

Meine Familie in Eggesin konnte ich am Telefon lange nicht beruhigen. Heiligabend mit Bescherung der Kinder ohne Ehemann und Vater war für meine Lieben einfach unvorstellbar. Aber schließlich fügte sie sich.

Weihnachtsengel von Eggesin                                                

(eine wahre Geschichte)

Der 24. Dezember 2010 war angebrochen und ich hatte meine Familie darüber informieren müssen, dass ich von meinem Dienst im Krankenhaus Ueckermünde erst spät am Heiligabend nach hause kommen könnte.

Für den Heimweg nach Dienstende hatte ich eine wenig befahrene Nebenstraße gewählt. Während ich mir die Szenen der Wiedersehensfreude ausmalte, kam Nebel auf. Erst zogen einige milchige Schwaden über die Straße, die sich dann aber immer mehr verdichteten. Bald war im Schein-werferlicht nur noch eine matt brleuchtete graue Suppe wahrzunehmen.

Ich drosselte die Geschwindigkeit, schaltete Nebelschweinwerfer und Schlussleuchte samt Warnblinkanalage ein und schlich mit 30 Stunden-kilometern vorwärts. Ich kannte die Strecke gut. Eine gut ausgebaute Nebenstraße, die über eine schmale Brücke führte, die kurz vor Eggesin das Flüsschen Uecker überquerte.

Wenn ich diese erreicht hatte, waren es nur noch wenige Minuten bis zu unserem Einfamilienhaus am Rande des Ortes.

Angestrengt schaute ich durch die Frontscheibe nach vorne, während der Wagen dicht am Mittelstreifen der Fahrbahn seinen Weg durch den immer dichter gewordenen Nebel suchte.

Ziemlich am Ende des Scheinwerferkegels im Übergang zur Nebelfront glaubte ich für einen Moment eine schemenhafte Gestalt gesehen zu haben, die etwas rot Leuchtendes in der Luft schwenkte. Ich konnte das Entdeckte zunächst nicht genau erkennen, aber nach und nach wurden die schemen-haften Umrisse  eines großen Menschen sichtbar, der einen langen Mantel trug und mit seinem rechten Arm eine rote Laterne hin und her bewegte.

Das musste eine Warnung sein, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht hatte es einen Unfall gegeben oder ein Reh war angefahren worden. Aber das würde ich ja gleich von dem im Nebel unheimlich wirkenden Wesen erfahren. Ich war Arzt und konnte mit meinem immer mitgeführten Notfallkoffer zumindest eine Erstversorgung von Verletzten leisten.

Ich hielt den Wagen, dessen Scheinwerfer die graue Nebelwand vergeblich zu durchdringen suchten, am Straßenrand an. Doch die Gestalt war wie vom Erdboden verschwunden.

Hatte sie sich im Nebel aufgelöst? Ich öffnete die Fahrertür und stieg aus. Plötzlich vernahm ich das Gurgeln und Tosen von Wasserstrudeln. Die Uecker konnte also nicht weit sein. Ich erinnerte mich an Zeitungsberichte, denen zu Folge heftige Regenfälle in den vergangen Tagen zum Anschwellen von Bächen und Flüssen geführt hatten.

Das musste der Grund dafür sein, dass auch der Pegel des Flüsschens Uecker angestiegen war und nun seine Wasserfracht mit Getöse bis zum Stettiner Haff transportierte.

Ich machte ein paar Schritte vorwärts. Der Nebel hatte sich in den vergangenen

Minuten weiter gelichtet, nur einzelne milchig gefärbte Fetzen zogen noch über die Straße.

Wo war die Brücke? Ich konnte sie nicht erkennen. Vor mir sah ich nur die dunklen Wassermassen der Uecker, die zu einem breiten Fluss angeschwollen war. Ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen und mich ein heftiger Schwindel erfasste.

Die Straße vor mir endete im Nichts. Aus einem Mauerwerk, das wohl Teil eines Brückenpfeilers gewesen war, ragte ein seltsam gebogenen Stück Geländer in den Nachthimmel. Undeutlich erkannte ich einen weiteren Brückenpfeiler, der aber keinen Brückenbogen mehr trug. Das graue Wasser schob sich mit lärmendem Getöse an mir vorbei. Die Brücke musste es fortgerissen haben, fuhr es mir siedend heiß durch den Körper.

Nur langsam ebbten Beinschwäche und das Schwindelgefühl  wieder ab.

Mir wurde klar, dass ich bei meiner Weiterfahrt mit dem Auto um ein Haar hier ins Wasser gestürzt und von den Fluten fortgespült worden wäre, wenn mich nicht diese geheimnisvolle Gestalt mit seinem roten Laternenlicht gewarnt hätte. Dieses Bild vor meinen Augen ließ mich einfach nicht los.

Ein Schutzengel musste mich vor dem Schlimmsten bewahrt haben. Aber wo war die Gestalt, die mich mit einem roten Laternenlicht vor dem Weiterfahren gewarnt hatte? Mühsam löste ich mich aus meinen Gedanken und rief mehrfach laut "Hallo, ist da jemand?". Doch nichts rührte sich. Meine Suche blieb vergeblich. Niemand war zu sehen oder antwortete auf mein Rufen.

Ich konnte mir das Verschwinden nicht erklären. Eine optische Täuschung meiner Sinne oder eine Illusion konnte ich ausschließen: zu deutlich war die mit der Laterne winkende Gestalt im Scheinwerferlicht zu erkennen gewesen.

Der Nebel hatte sich jetzt vollständig gelichtet. Ich stieg wieder in mein Fahrzeug und informierte über mein Smartphone die Polizei über die weg gerissene Brücke. Dann wendete ich, um auf der Hauptstrecke den Weg nach Haus zu nehmen.

Als ich am späten Abend die Haustür aufschloss und in die erstaunten und erfreuten Gesichter meiner Familie blickte, war all die Anspannung und der Schrecken über das Erlebte vergessen.

Es wurde ein schöner und harmonischer Weihnachtsabend, den ich in all den Jahren zuvor noch nie so intensiv wahrgenommen hatte.

Erst als wir die Kinder zu Bett gebracht hatten, erzählte ich meiner Frau mein Erlebnis. Wir beschlossen, am nächsten Tag einen Ausflug  zu der Stelle zu machen, wo ich meinen Wagen wegen des Warnhinweises angehalten hatte.

Bald standen wir vor dem gurgelnden Wasserstrom, sahen auf die Reste der Brücke und fragten uns, wer mich da wohl gewarnt haben könnte. Aber wir konnten diese Frage nicht beantworten.

Später stellte ich Nachforschungen an,  um herauszufinden, wer mich am Heiligabend vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Doch niemand konnte mir einen entscheidenden Hinweis geben.

Und so wurde diese schicksalshafte Begegnung mit meinem Schutzengel, der für mich zu einem Weihnachtsengel wurde, ein  Bestandteil meines Lebens.

 

Manfred Kolb
22.11.2020

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